Das Metaverse, Teil III: Avatare

Wer wollen wir sein im Metaverse? Avataren sei Dank können wir es uns aussuchen, zumindest äußerlich. Aber wo bekommt man Avatare her, warum sind sie so wichtig, und was haben sie mit Kunst zu tun?

Avatare erschaffen
Avatare erstellen, heute erheblich einfacher als zu Frankensteins Zeiten. ©CC-BY-SA-4.0

Innerhalb von nur einem Jahr ist das Erstellen von Avataren unglaublich einfach geworden, und jeder Mensch, der das hier liest, wird innerhalb der kommenden Dekade mindestens einen davon haben. Aktuell scheinen Avatare wie harmlose Spielfiguren, aber als virtuelle Vertreter körperlicher Existenzen werden sie das gängige Verständnis von Identität fundamental verändern. Die Ausbildung von Persönlichkeit wird sich zunehmend vom Einfluss biologisch gegebener Merkmale lösen, Selbstdarstellung sich nicht mehr nur auf eine biologisch vorgegebene und allein mithilfe von Kleidung modifizierte Gestalt beschränken, sondern unterschiedlichen Rollen und Ausdrucksbedürfnissen entsprechend unterschiedliche virtuelle Erscheinungsformen annehmen. Gleichzeitig in mehrfachen und unterschiedlichen Ausführungen unterwegs sein zu können, einen Vorgeschmack darauf liefern Social-Media-Profile schon heute. Die etwa auf Instagram gängige Form einer von den Tatsachen abweichenden Selbstdarstellung wird gern als unecht kritisiert, aber es gäbe gar keinen Grund für Mädchen, einem unerreichbaren Schönheitsideal nacheifern zu wollen, wären unterschiedliche Erscheinungsformen in verschiedenen Räumen als normal akzeptiert. Dass wir nur in einer durchgehend kongruenten Erscheinungsform „echt“ sind, ist ein Irrtum, zu dessen Auflösung Avatare hoffentlich beitragen werden.

Wie viele sind wir? Von Metamorphosen bis Replikanten

Die Verdammung von Beauty-Filtern ist umso unverständlicher, als die Idee der Verwandlung schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Avatare als menschliche Gestaltwerdung einer Gottheit waren schon im Hinduismus bekannt, Verwandlungen in der Antike den Metamorphosen des Ovids zufolge an der Tagesordnung. Die Gabe des Verwandelns und Abbilderschaffens war allerdings Göttern vorbehalten. Menschen wurden entweder unfreiwillig und durch böse Kräfte in wenig erstrebenswerte Erscheinungen (Frösche, Monster) verwandelt oder mussten aufs Illusionsprinzip setzen und sich verkleiden, bevor sie von den Fesseln ihrer körperlichen Erscheinung erlöst ins Jenseits verabschiedet wurden. Interessanterweise schien der Mensch allerdings eh nicht so erpicht auf die göttliche Gabe der Verwandlung, dafür umso mehr auf die der Schöpfung. Wobei von der Golem-Legende über Mary Shelleys Frankenstein bis zu den ersten Klonversuchen mit den konkreter werdenden Möglichkeiten zur Erschaffung von neuen Körpern auch die Angst vor Kontrollverlust über den eigenen wuchs. Body Snatchers, Zombies, Replikanten, das 20. Jahrhundert ist geprägt von entsprechenden Angstbildern, während als Gegenpol dazu eine Selbstoptimierungsindustrie entstand, die absolute Kontrolle über den Körper zum ultimativen Ziel erhob. Vor dieser Entwicklung sind die Vorbehalte gegenüber Avataren als Ersatz von Körperlichkeit durchaus verständlich, aber unbegründet: Mit einem Avatar erschafft man keinen virtuellen Klon oder ein Ersatzwesen, sondern ein zusätzliches Outlet für den Facettenreichtum der eigenen Identität.

Aus der NFT-Collection “ikon-1” von Nick Knight auf OpenSea.

Natürlich unterliegen auch Avatare gesellschaftlichen Konventionen und Abhängigkeiten, etwa von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Besitzer, denn sie wollen ausgestattet und -geführt werden, und das kostet. Schon jetzt erzielen manche Sneaker von Digitalmode-Pionier Nike teils höhere Umsätze als ihr physisches Pendant, mit DressX hat der erste Multibrand-Onlinestore für digitale Mode eröffnet, selbst Beauty-Produkte für Avatare gibt es schon, z.B. von L’Oréal, und Models in Form von Avataren sowieso, als die besten gelten aktuell die der deutschen Firma DMIx. Dienstleister wie Arianee, Exclusible oder Waltz Binaire bringen Marken ins Metaverse, Kreative wie Modefotograf Nick Knight erforschen neue Ästhetiken für die Darstellung ihrer Produkte, und manche Marketing- und PR-Agenturen sind ausschließlich darauf ausgerichtet, digitale Produkte und virtuelle Influencer zu vermarkten. Hier zu empfehlen ist z.B. Trashy Muse mit nützlichen Beiträgen zum Einstieg in den Kauf von digitaler Mode, über Avatare als Influencer und sonstige Metaverse-relevante Themen.

Wo bekommt man Avatare her?

Wer einfach nur einen Avatar als zweidimensionales Profilbild möchte, bekommt einen mithilfe von Apps wie Lensa, im folgenden aber geht es um sogenannte Full-Body-Avatare, mit denen man sich durch dreidimensionale Metaverse-Umgebungen bewegen kann. Die beinlosen Avatare von Meta waren lange ein running gag (haha) und galten als minderwertig – tatsächlich aber ist zu hinterfragen, warum man überhaupt Beine haben will als Avatar, wenn man z.B. auch als flauschige Kugel durch die Gegend rollen kann und es davon abgesehen überhaupt keinen Vorteil mit sich bringt, als virtueller Avatar so auszusehen wie im körperlichen Leben, wie bereits in den siebziger Jahren Myron Krueger herausfand, als er sein heute als bahnbrechender Metaverse-Vorläufer gefeiertes Videoplace erschuf und dabei eine bis heute gültige Gesetzmäßigkeit erkannte: am relevantesten für eine Orientierung im virtuellen Environment ist nicht eine möglichst realitätsgetreue Nachbildung, sondern die Qualität der Interaktionsmöglichkeiten.

Die einfachste Methode, an einen Avatar zu kommen: Bei Anbietern wie dem aktuell bekanntesten, Ready Player Me, ein Foto von sich hochladen und aus einer Bibliothek von mehreren hundert Merkmalen einen relativ ordentlich personalisierten, menschenähnlichen Avatar kreieren. Vorteil: Die Avatare sind kostenfrei und interoperabel, erscheinen also auf verschiedenen Metaverseplattformen wie gestaltet und können auch die für sie gekaufte Ausstattung (z.B. NFTs von digitalen Sneakers) von einer Plattform in die nächste mitnehmen. Nachteil: Die Avatare sehen langweilig aus und schreien danach, mit digitaler Mode ausgestattet zu werden, um was herzumachen. Visuell interessanter (deshalb auch nicht kostenfrei) wird es da schon im Avatar Shop von Roblox. Da kann man aus verschiedenen Charakteren und Stilvorlagen wählen, ob man lieber menschenähnlich oder als Dinosaurier, Pilz oder Pommestüte durchs Metaverse laufen will – der nerdige Geschmack der typischerweise im Gaming-Kontext beheimateten Roblox-Entwickler lässt grüßen.

Wer nach dem Motto „Meine Körper gehören mir“ mit einem gewissen Grad an Selbstermächtigung das Metaverse erforschen und dabei den eigenen Gestaltungseinfluss geltend machen will, sollte sich selber einen Avatar basteln. Ganz einfach geht das z.B. mit der Open-Source-Software Make Human und zur weiteren Verfeinerung in Blender (hier ein schon etwas älteres, aber supereinfaches Youtube-Tutorial dazu). Und wenn weder langweilig noch lustig oder selbstgebastelt eine Option sind, bleibt noch die Möglichkeit einer hyperrealistischen virtuellen Kopie der organischen Erscheinung, möglich per Foto-Upload und dank generativer KI, z.B. mit 3D Avatar Diffusion von Microsoft oder mit Avaturn, beide erst seit kurzem verfügbar. Oder man beweist seine Kennerschaft durch Erwerb eines möglichst seltenen oder sogar einzigartigen NFT-Avatars aus einer Kollektion. In Weiterentwicklung des Hypes um zweidimensionale Profilbilder (PHP) von CryptoPunks bis Bored Apes gibt es jetzt auch 3D-Versionen und extra fürs Metaverse gestaltete Kollektionen wie z.B. die „Clone X“-Kollektion von Takashi Murakami in Kooperation mit RTFKT oder die „Metanatics“ von Kryptokünstlerin und NFT Influencer RealMissNFT.

Aus der “Clone X” Avatar-Collection von Takashi Murakami für RTFKT auf OpenSea.

Avatare in der Kunst

Die Geschichte des Avatars in der Kunst beginnt nicht erst mit dem Metaverse. Das Konzept des Alter Ego, der Kunstfigur, kann zumindest als Vorläufer dazu betrachtet werden. Marcel Duchamp hatte mit Rrose Sélavy ein weibliches Alter Ego, dem er seinen Körper lieh; Jean-Michel Basquiat tötete sein körperloses Alter Ego namens SAMO, das er als sein Graffiti-Tag eingeführt hatte, als es sich zu verselbständigen drohte, und das Alter Ego von Richard Prince namens John, das ebenfalls nie als Gestalt sichtbar wurde, sollte ursprünglich nur ein Pseudonym sein. Frühe Avatar-Kreationen in der Kunst wie z.B. „Mythic Being“ von Adrian Piper aus dem Jahr 1973 sind eher Alter Egos, erst mit dem Aufkommen von virtuellen Umgebungen entstehen Avatare im heutigen Sinn. Die Plattform Second Life war ein Tummelplatz dafür, hier sind vor allem die Arbeiten von Cao Fei oder Jon Rafman (legendär dessen Avatar “Kool-Aid Man”) als wegweisend zu nennen.

Aktuelle Positionen begreifen Avatare entweder als Erweiterung künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten oder zur Erprobung des Verhältnisses von Mensch und Technologie, wobei die Haltung von einer positiv zugewandten bis zu einer warnenden reicht. Ein paar Beispiele: Lu Yang vergrößert mittels seiner Avatare seinen persönlichen und künstlerischen Ausdrucksradius; LaTurbo Avedon hat sich einen Avatar erschaffen, um ausschließlich als dieser öffentlich aufzutreten; Theo Triantafyllidis erforscht, wie in virtuellen Räume wie dem Metaverse Communities entstehen und virtuelle Stellvertreter miteinander kommunizieren; Ed Atkins thematisiert mögliche Negativauswirkungen wie Einsamkeit und Empathieverlust; Ryan Whittier Hale sieht Avatare als melancholische Überbleibsel einstiger Menschlichkeit.

Ryan Whittier Hale zeigt Avatare, die sich in die Zeit der Renaissance zurücksehnen. ©the artist.

Lange Zeit galt in der Kunst die möglichst lebensnahe Darstellung organischer Materie als Königsklasse, und es war völlig normal, dass auch nicht wirklich existierende, also etwa mythologische Kreaturen möglichst lebendig wirkende Körper bekamen. In der aktuellen Kunstproduktion dagegen herrscht ein Hang zur entkörperlichten Darstellung vor. Einen letzten Höhepunkt in der Huldigung des menschlichen Körpers und zugleich Vorbote des Verlusts des Körperlichen stellen die Malerei von Lucian Freud oder Jenny Saville dar – nackt, schonungslos, brutal präsent und abstoßend. Danach wird der menschliche Körper in der Malerei flach und fahl. Zugleich aber ist wie als Kompensation dieses Umstandes eine noch nie dagewesene Lust an Texturen erwacht, als wachse da eine neue Form von Haut, die gar keinen organischen Körper mehr braucht, um zu leuchten. Vieles, was an Kunst heute gezeigt wird, auch in der Malerei, will man nicht nur anfassen, man will es ablecken (dieser Beitrag im White Hot Magazine liefert ein paar schöne Beispiele). Der Mensch in organischer Form mag auf dem Weg nach draußen sein, aber seine Lust am Sehen, Tasten, Fühlen lebt fort. Auch in den Avataren.

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