Das Metaverse, Teil I: Grundlagen

Das Metaverse hat etwas Mythisches, genährt von einem komplexen Geflecht von Vorstellungen und Einflussfaktoren. Verstehen kann man es trotzdem. Wichtigste Voraussetzung dafür: das ganze leere Gequatsche ausblenden.

Kaum ein Begriff ist so schwammig und wird dabei so inflationär gebraucht, nirgends prallen Unwissen und Heilsversprechen derart ungefiltert aufeinander wie bei Gesprächen über „das Metaverse“, gern zwischen Menschen vom Schlag „Ich höre mich reden, also bin ich“ und in einem Maß an Selbstreferentialität, dass man sich nicht wundern darf, wenn die öffentliche Haltung zum Metaverse geprägt ist von Fremdeln, Missverständnissen und Verurteilung. Laut einer Umfrage zum „Industrial Metaverse“ kann sich gerade mal ein Viertel der Befragten etwas unter dem Begriff vorstellen, und die meisten denken dabei an Gaming oder irgendwas mit Unterhaltung. Wenn die Euphorie über den Segen der Dezentralisierung und Nutzer-Selbstbestimmung in Web3 ernst gemeint ist, muss der aktuelle Diskurs darauf hinarbeiten, eine breitere Gesellschaft mit einzubeziehen. In der Folge ein paar Eckpfeiler zum aktuellen Entwicklungsstatus Metaverse (weit entfernt von Vollständigkeit), für Einsteiger, die sich selbst, und für Fortgeschrittene, die andere informieren möchten.

Das Metaverse – was es ist

⚙️ Ein offener Prozess. Das Metaverse erwächst aus vielen unterschiedlichen Visionen und Entwicklungsansätzen. Zwar gibt es eine allgemeine Übereinkunft über grundlegende Eigenschaften, aber noch viel Raum für weitere Ausformung. Lektüreempfehlung für Detailinteressierte: dieses Paper zum aktuellen Stand aus dem International Journal of Information Management. Ansonsten sind die Basics:

  • Raum Lässt sich am einfachsten vorstellen als eine virtuelle Erweiterung all dessen, was man in der materiellen Welt tun kann (Einkaufen, Sachen angucken, Spielen, mit anderen kommunizieren), auf eine Weise, wie man es im Internet gelernt hat, nur in dreidimensional.
  • Interaktion Im wesentlichen eine Erweiterung von bereits gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten (Kommentare, Chats, Videocalls etc.) um eine räumliche und motorische Komponente (Avatare stehen zusammen vor Bühne statt Kommentare zum Konzert auf Social Media, Avatar probiert ein Kleidungsstück an statt Auswahl anhand von Fotos im Onlineshop).
  • Technologie Basiert im Wesentlichen auf sieben technologischen Entwicklungen von Blockchain über AR/VR bis Edge Computing/5G und ist keine Zauberei. Nutzer benötigen oft nicht mehr als einen Rechner, VR-Brillen sind keinesfalls notwendige Voraussetzung, seit kurzem gibt es außerdem „metaverse-ready“ Smartphones, wobei schon beim ersten dieser Art (von HTC) niemand schnallt, wie es funktioniert. Problematisch: Technologie allein ist oft nur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Zugang zum bzw. Interaktion im Metaverse, die Experiences wie z.B. Konzerte sind oft kostenpflichtig.

⚙️ Ein historisch verankertes Konstrukt. Es kommt nicht aus dem luftleeren Raum und wirkt im Kontext historischer Entwicklungen gleich viel weniger unverständlich, beängstigend oder zaubereimäßig. Immer noch gute Lektüre zur Einordnung: Matthew Ball, Tech-VC, Autor und als Metaverse-Beobachter schon lange dabei.

⚙️ Eine Einladung zur Teilhabe. In keinem anderen Feld ist es aktuell so einfach, Teilhabe an Diskurs oder sogar Gestaltung zu erlangen. Zum einen, weil sich kaum jemand auskennt, zum anderen, weil der Entwicklungsprozess gerade erst an Fahrt aufnimmt. Wer diese Einladung nicht annimmt: selbst schuld.

Das Metaverse – was es nicht ist

⚙️ Fertig. Weder als Konzept noch in der Ausführung. Und das wird es auch nie sein, weil dafür schon zu viele Entitäten auf zu unterschiedliche Weise dazu beitragen. Es könnte sterben (auch eine Form von „fertig“, haha), aber bis dahin wird es sich genauso stetig verändern, wie es das Internet von Web2 immer noch tut.

⚙️ Singulär. In der Zweidimensionalität von Web2 ist es selbstverständlich, Webseiten als einzelne abgeschlossene Entitäten zu begreifen, aber das dreidimensionale Metaverse stellen sich viele als eine ganze Welt vor, als einen einzigen Raum. Es ist aber eine Summe von Räumen, es ist multivers. Im Singular von „das Metaverse“ spricht man einfach nur so, wie man auch „das Internet“ oder „die Medien“ sagt. Weil anders als in Web2 Nutzer in den einzelnen Räumen zum Teil ausschließlich im Metaverse existierende Assets erwerben (z.B. Kleidung für einen Avatar), wäre eine Durchlässigkeit der einzelnen Raumgrenzen bzw. Interoperabilität allerdings durchaus wichtig (man will sich ja nicht in jedem Raum eine neue Avatar-Garderobe zulegen müssen), bislang aber weder hard- noch software-technisch darstellbar, und auch der Datenschutz macht beim fröhlichen Mäandern von Raum zu Raum noch nicht mit.

⚙️ Eine Simulation. Das Virtuelle ist genauso real wie die „echte“ Realität, man erfährt die virtuelle Realität auf eigene Weise und anders als die der materiellen Welt. Ja, es gibt Metaverse-Simulationen wie zum Beispiel für das Üben von chirurgischen Eingriffen, aber nicht, um die OP an der virtuellen anstatt der organischen Materie vorzunehmen, sondern um sich auf diese optimal vorzubereiten. Und ja, es gibt aktuell Tendenzen, das Metaverse als virtuelle Ablage für IRL-Existenzen zu missbrauchen, aber dass Meta den verstorbenen Notorious B.I.G. für ein postumes Konzert wieder auferstehen lässt oder sich mit Tuvalu ein ganzer Inselstaat ins Metaverse kopieren will, verstellt den Blick auf neue Möglichkeiten, die nicht von den Restriktionen der aktuellen IRL-Welt (Tod oder Klimakrise zum Opfer fallen) abhängig sind – auch wenn im Metaverse natürlich neue Probleme auf uns warten.

Wo es herkommt

⚙️ Evolution. Aus dem Bauch der Menschheit. Die Lust an Raumentdeckung und Bewegungsradius-Erweiterung ist der menschlichen Spezies eingeschrieben und erzielt gerade einen Erfolg nach dem anderen, von AR/VR über Raumfahrt bis eben Metaverse.

⚙️ Technologie. Aus der Summe der o.g. technologischen Entwicklungen bis heute. Bekannte Vorläufer sind Second Life als erste „social virtual world“ und Multiplayer Games von Dungeons & Dragons bis Fortnite, überhaupt Gaming ganz grundsätzlich.

⚙️ Name. Die Vision von im dreidimensionalen virtuellen oder sonstwie nicht erdlichen Raum interagierenden Avataren ist ein Klassiker der Science-Fiction-Literatur. Neil Stephenson beschreibt diese Vision in seinem Roman „Snow Crash“ (1992) einfach am griffigsten und ist zudem eh ein Lieblingsautor der Tech-Szene, deshalb hat sein Name dafür das Rennen gemacht: Metaverse. Es könnte aber auch ganz anders heißen, „Multiverse“ etwa, oder „Cyberspace“, falls sich noch jemand erinnert, oder „Spacey das kleine Raumwunder“. Völlig egal. Vielleicht auch ganz einfach „Internet“, denn eines Tages werden Internet und Metaverse eh eins sein.

Wozu es gut ist

⚙️ Freiheit. Sich von eigenem körperlichen Erscheinungsbild unabhängig machen, einen Beruf oder Sport ausprobieren, die Antarktis durchwandern, Dinge tun oder sein, die einem Biomasse, Wohnort oder gesellschaftliche Rolle IRL verwehren würden. Man ahnt, dass die Identitätsdebatte ganz neues Futter erhalten wird.

⚙️ Ressourcen. Mode und sonstige Konsumprodukte können ressourcenschonend produziert und ohne weitere Ressourcenbindung unendlich oft reproduziert werden, Festivalbühnen sind ressourcenfrei auf- und abbaubar, Großveranstaltungen hinterlassen keinen Müll, das Prinzip des Digital Twin (in Industrie 4.0 bereits relativ gängig) ermöglicht dank virtueller Simulation von physischen Produktionsabläufen effizientes Planen und verringert Abfallprodukte…

⚙️ Innovation. Neben den offensichtlichen für eine optimale Erfahrung wichtigen Entwicklungen ist das Phänomen der mittelbaren Innovationen hoch interessant, etwa in Bezug auf Sound. Zur Orientierung in einem unbekannten Raum ist Hören wichtiger als Sehen. In den letzten Dekaden hat sich das menschliche Sehvermögen aufgrund von Bildschirm- und Innenraumarbeit eklatant verschlechtert, das Hörvermögen nicht. Dank virtueller Räume erfährt Sounddesign ein Hoch. Nachdem Bilder zunehmend dreidimensional angelegt werden, ist es gut möglich, dass Sound das neue Bild wird.

Welche (falschen) Ängste lauern

⚙️ Kommerzialisierung und Monopolisierung. Dass die großen Corporates die Kontrolle übernehmen und eine Teilhabe nur über Konsum möglich sei. De facto ist die Sache mit dem Konsum schon jetzt so, aber das muss nichts Schlechtes sein. Interessant zumindest ist, dass der Erwerb eines Produktes im Metaverse nicht mehr das Ende eines Kaufprozesses bedeutet, sondern ihren Anfang, in Form von Zugang zu Aktivitäten oder „Experiences“. Konsum als Erfahrung anstatt stumpfes Anhäufen von Materie, das klingt nicht so schlecht.

⚙️ Manipulation. Vor allem politische Institutionen unken die Gefahren einer Kontrolle durch zentralisierte, privatwirtschaftliche Entitäten herbei. Lustig z.B. die Studie „Demokratische Werte nach europäischem Verständnis im Metaverse“ der Stiftung Zukunft Berlin, die Kontrollversuche anderer kritisiert und gleichzeitig selber unternimmt – und dabei auch noch Parameter anlegt, die für eine andere Welt geschaffen wurden (Europa…) als fürs Metaverse.

⚙️ Realitätsverlust. Klar ist es auch im Metaverse so, dass „no one knows you’re a dog“. Wer seinem Avatar lieber eine andere Körperform oder Hautfarbe geben will als die angestammte, kann das natürlich tun. Diskriminierung wird es trotzdem weiterhin geben, auch im Metaverse herrschen Distinktionsmerkmale: von den Sneakern, die man als Avatar trägt bis zu den Veranstaltungen, zu denen man Zugang erhält. Das Metaverse wird keine bessere Welt, aber auch kein Fake, denn es entsteht auf Basis der sozialen und kulturellen Gegebenheiten der materiellen Welt.

Woher kommen die Räume im Metaverse? Ein Überblick über aktuelle Player von Big Tech bis Kunst in Das Metaverse, Teil II: Plattformen

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