Was ist künstlich? Und wie lange noch?

Warum existiert das Adjektiv „künstlich“ noch? Wir wollen doch alle nur noch das Echte, und wenn die Natur es nicht hergibt, basteln wir es uns selbst, sogar in besser. Weshalb auch das Adjektiv „natürlich“ bald ausgedient haben wird.

©CC-BY-3.0/Theonlytruth

Künstliche Befruchtung, künstliches Hüftgelenk, künstliche Zusatzstoffe… wird es bald nicht mehr geben, also das Adjektiv „künstlich“, denn wenn demnächst der Mensch alles produziert und die Natur nichts mehr, braucht es die Unterscheidung des Künstlichen als menschgemacht vom Natürlichen als, nun, naturgemacht, nicht mehr. Eigentlich ist sie eh seit jeher insofern schwachsinnig, als ein von Menschen, also von natürlich entstandenen Wesen (und die allermeisten Menschen halten sich ja für natürlich entstanden, selbst wenn sie aus dem Reagenzglas kommen) unter Verwendung von aus der Natur gewonnenen Substanzen gemachtes Erzeugnis ja wohl kaum künstlich sein kann, mal ganz abgesehen davon, dass sich alles, was sich der Mensch ausdenkt, schon verdammt viel Mühe gibt, der Natur nahezukommen, sie nachzuahmen oder zu verbessern – oder Natur und Technik gleich so zu verschmelzen, dass keine Zuordnung zum einen oder anderen mehr erkennbar ist. Aktuell ist es bereits möglich, menschliche Herzen per 3D-Drucker herzustellen, tote Spinnenkörper zu hydraulischen Feinmechanikwerkzeugen umzubauen (Arachnophobiker schauen sich jetzt natürlich dieses faszinierende Video dazu an) oder Roboterprothesen mit menschlicher Haut zu überziehen, und bis zur erfolgreichen Verbindung von Hard- und Software mit Wetware (also organischer Materie, die wie ein Computer funktioniert, vor allem das menschliche Gehirn) ist es auch nicht mehr weit.

Die Natur, die beste Künstlerin der Welt

Aber am Anfang, also als der Mensch noch ganz am Anfang seines aktuellen Simulations – äh, Evolutionslevels stand, empfand er die Natur als wahnsinnig mächtig und ihm überlegen und selbst, als er ihr schon durch windfeste Dächer über dem Kopf und haltbare Essensvorräte in der Kammer nicht mehr ganz so ausgeliefert war, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, sich irgendwann einmal über sie zu erheben. Gerade der Kunst galt die Natur lange als Quelle von Schönheit und Inbegriff der Vollkommenheit, quasi als beste Künstlerin der Welt. Egal wie „naturgetreu“ man sie abzubilden versuchte, die eigene Kreation war nichts gegen ihre Schöpfungsmacht, und die wiederum stand natürlich für die Macht Gottes, der halt die Natur mit besseren Fähigkeiten ausgestattet hatte als den Menschen, das musste man anerkennen, die Schöpfung Gottes durfte man feiern, aber nicht herausfordern oder gar übertrumpfen, das wusste man ja schon seit biblischen Zeiten, um den Turmbau zu Babel nur mal als Beispiel zu nennen.

Na ja, um die Sache abzukürzen: Zwischen Aufklärung und Industrialisierung wurde das Verhältnis des Menschen zur Natur (und damit auch Wissenschaft und Kunst zur Natur) durch ein paar Entwicklungen und Erkenntnisse beeinflusst, die den Menschen irgendwann dann doch sagen ließen, liebe Natur, das hast du bis hierhin alles sehr hübsch gemacht, aber jetzt übernehme ich. Als „naturidentische“ Aromastoffe erfunden wurden (1874 mit Vanillin das erste), galt die Natur immer noch als Vorbild, aber bereits als unzulänglich, weil sie es nicht hinbekam, in jeder Gegend, wo Leute was mit Vanille essen wollten, auch welche wachsen zu lassen. Und als Anfang des neuen Jahrtausends Biolebensmittel bzw. „organic food“ in den Supermärkten Einzug hielten und „Zurück zur Natur“ zur Parole derer wurde, die sich wohn- und verständnistechnisch in größte Distanz zu dieser begeben hatten, wurde die Ablehnung alles Künstlichen in der Ernährung und auch sonstwo zu einem Lifestyle-Choice-Zirkus hochgejubelt, wie er verkünstelter nicht hätte sein können. Eine Faustregel unsere Zeit: Wo am lautesten nach Natur geschrien wird, geht es am unnatürlichsten zu.

Technologie als Retter und Verbesserer der Natur

Auch deshalb ist die aktuelle Debatte um die menschgemachten Auswirkungen auf den Klimawandel eine heuchlerische. Wir haben alles Mögliche erfunden, was für Menschen total super war, für die Natur aber halt nicht so, und jetzt stehen wir vor der Klimakatastrophe und erstarren vor unserem Werk der Zerstörung, anstatt zu sagen, wenn wir Technologien zu unserem eigenen Wohl entwickeln, warum dann nicht auch zum Wohl der Natur? Wer A sagt, muss auch B sagen, und deshalb wird jetzt mal hübsch weitergebastelt an planetenrettenden Entwicklungen wie zum Beispiel Labor-Fleisch aus Enzymen oder aus CO2 („Air Meat“) statt aus Rindern, Entsalzungsanlagen für Meerwasser, Abschirmanlagen zwischen Sonne und Erde, so Sachen halt.

Seien wir ehrlich: Wenn wir „natürliche“ Natur fordern, dann meinen wir eine menschgefällige. „Wild“ und „unberührt“ darf sie nur in jenem Masse sein, dass es gerade braucht, um unser schlechtes Gewissen angesichts unserer Einwirkungen auf diese zu beruhigen. Wir wollen eine Natur, die uns einen bestmöglichen Lebensraum gewährt, die nicht nervt, uns nicht bedroht, die kontrollierbar ist – und das ist eine technologisch optimierte, denn über das „Ursprüngliche“ der Natur haben wir keine Kontrolle, über das von uns Konstruierte schon. Und da wo alles konstruiert ist, gibt es keine Unterscheidung in „natürlich“ und „künstlich“ mehr.

Ok, aber wenn wir in einer nachgebauten Natur leben, wird sich dann nicht erst recht alles „künstlich“ anfühlen? Nein, denn wir werden weder einen Vergleich zwischen dem organisch gewachsenen und im Labor gezüchteten Steak haben, noch wird letzteres als billige Kopie wahrgenommen werden. Am Ende entscheidet über die Güte einer Erfahrung nicht die materielle Eigenschaft, sondern unser Kopf. Psychologen etwa beobachten, dass virtuelle Erfahrungen nicht nur als wirklich, sondern sogar stärker empfunden werden als ihre materiellen Gegenparts und machen sich Sorgen um die psychischen Auswirkungen virtueller Extremerfahrungen, etwa wenn man dabei zusehen muss, wie die Avatar-Version von einem selbst im Metaverse umgebracht wird (lustigerweise fordert ausgerechnet der KI-Minister der Vereinigten Arabischen Emirate eigene Gesetze für diesen Fall), und US-amerikanische Drohnenpiloten, die „virtuell“ und aus der Distanz per Bildschirmübertragung auf Menschen schießen, leiden offenbar noch stärker an posttraumatischen Belastungsstörungen als ihre Kollegen im IRL-Kriegsgeschehen.

Geht mit dem Künstlichen auch die Kunst?

Und was heißt der Verlust des Künstlichen für die Kunst? Wenn es keine Unterscheidung mehr zwischen real und virtuell, organischer und anorganischer Materie, von selbst entstanden und gemacht mehr gibt? Vielleicht wird sich das einstige Verhältnis von Natur und Kunst umkehren, nicht mehr die Kunst die Natur nachahmen wollen, sondern umgekehrt. Die Künstlerin Krista Kim folgt dieser Theorie und legt in diesem Essay dar, wie in Zukunft heute noch als „künstlich“ klassifizierte Räume wie Virtual Reality vorgeben werden, wie wir unsere Welt gestalten und darin leben, nicht mehr umgekehrt. Vielleicht wird die Kunst sich aber auch extrem anstrengen, als solche wahrgenommen und verstanden zu werden und dafür übertriebene Methoden der Nachahmung pflegen, vielleicht im Stile des Skeuomorphismus, bei dem Objekte ein Material oder eine andere, ältere Objektform nachahmen, ohne dass dies funktional bedingt oder notwendig wäre (das „Papierkorb“-Symbol bei Apple ist ein gutes Beispiel dafür). Vielleicht werden als „manuell“ gefertigte Werke unglaublichen Wert erreichen und wie Reliquien gehandelt, als Mementi Mori an das einstige Wirken der Kunst. Vielleicht wird aber auch alles miteinander verschmelzen, Kunst und Technologie werden eins, oder Technologie wird die neue Kunst, oder Kunst die neue Technologie. Betrachtet man die eingangs genannten Entwicklungen bei der Auflösung der Grenzen zwischen organischer und anorganischer Materie (Stichwort Wetware, hier ein guter Beitrag von Jens Hauser zu den möglichen Konsequenzen für die Kunst), ist das ein durchaus logisches Szenario.

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