Kunst und Tech zur Berlin Art Week

Das Programm der diesjährigen Berlin Art Week bietet mehr digitale Kunst als je zuvor. Interessanterweise braucht es dafür kaum Pixel oder VR-Brillen.

Tieranatomisches Theater, Humboldt-Universität zu Berlin. Photo© Stefan Josef Müller.

Eigentlich könnte man den Begriff „digitale Kunst“ auch abschaffen, denn der reduziert das Verständnis vom Digitalen in der Kunst zu sehr auf Pixel, Blockchain oder VR-Brillen, auf Medium und Technik halt, und impliziert, dass es sich bei digitaler Kunst um ein eigenes Genre handelt – aber genau das ist nicht der Fall, denn die Spuren der Digitalisierung durchziehen in materieller, konzeptueller, thematischer Form das gesamte Kunstschaffen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Kunst mittlerweile mit Erscheinungsformen und Auswirkungen digitaler und sonstwie technologiegetriebener Phänomene auseinandersetzt, zeigt sich auch im Programm der diesjährigen Berlin Art Week. Hier für Kunst-und-Tech-Interessierte ein paar Ausstellungsempfehlungen zum Berliner Saisonauftakt:

Rachel Rossin – Wetware

Die Grenzen zwischen organischer und anorganischer Materie werden durchlässiger, organische Materie wird auf ihre Nutzungsmöglichkeiten als Hard- und Software geprüft (Stichwort Wetware). Technologie wandelt sich von einem praktisch gedachten, lebensvereinfachenden Werkzeug zu einer bewusstseinsgestaltenden Kraft, die uns buchstäblich durchdringen wird (das heute noch in der Hand gehaltene Smartphone könnte morgen der ins Gehirn implantierte Computerchip sein, um nur ein Beispiel zu nennen). Die US-Amerikanerin Rachel Rossin erforscht diesen Wandel und entwirft das Bild einer Zukunft, die keinen Unterschied mehr machen wird zwischen menschgemachter Technik und technologisch gemachtem Mensch. In Kooperation mit den Kunst-Werken hat sie eine quasi-ortspezifische Ausstellung für die Räume eines ehemaligen Hörsaals für Veterinärmedizin konzipiert. Rachel Rossin, “The Maw Of”, Tieranatomisches Theater, 14.-18.9.2023

Sarah Friend – Konkurrenz und Kooperation

Die im „Crypto Kiosk“, einem eigenen Raum für NFT bzw. Blockchain-basierte Kunst der Galerie NagelDraxler, gezeigten Positionen sind OG und Avantgarde in einem. KünstlerInnen wie Sarah Friend, die technologische Anwendungen für die Kunst gleichzeitig, erforscht, errichtet und reflektiert, und letzteres auf so verständliche Weise, dass man es auch als Newcomer versteht. Wer ihre Ausstellung über gegenseitige Beeinflussungsfaktoren bei der Gestaltung von Blockchain und Erde und die ambivalente Gestaltungsdynamik zwischen Konkurrenz und Kooperation nicht besuchen kann, liest ihren online verfügbaren Text über Wertschöpfungsaspekte von NFT in der aktuellen (September 2022) Ausgabe von Texte zur Kunst. Sarah Friend, „Terraforming“, NagelDraxler Crypto Kiosk, 17.9.-5.11.2022 (Eröffnung 16.9. von 18-21 Uhr)

Lu Yang – Avatare

Wenn man sich schon über die Grenzen von Geschlecht, nationaler Zugehörigkeit oder organischer Materie erheben kann, wenn man schon ein nichtphysisches Abbild seiner selbst in nichtphysischen Räumen platzieren kann, warum dann nicht gleich das Prinzip der singulären Identität komplett sprengen? Als „Artist of the Year“ der Deutschen Bank tut die Chinesin Lu Yang genau das in den Ausstellungsräumen des Palais Populaire, anhand einer sich auf unterschiedliche Weise in immersiven Ausstellungsgeschehen manifestierenden Kunstfigur namens DOKU. Der Name ist abgeleitet von Dokusho Dokushi, einer buddhistischen Weisheit aus Japan, nach der wir alleine geboren werden und alleine sterben, was nicht zu leugnen ist – aber zwischen Leben und Tod können wir so viele sein, wie wir wollen. Lu Yang, „DOKU Experience Center”, Palais Populaire, bis 13. Februar 2023

Lu Yang, Videostill aus “DOKU the Matrix”, 2022. Courtesy the artist.

Jenna Sutela – Mikroorganismen als Code

Die Finnin Jenna Sutela richtet ihren Blick auf das Innere des menschlichen Körpers, genauer, auf Mikroorganismen. Bakterien versteht sie als eine Art Code, programmiert, um nicht nur körperliche Vorgänge zu beeinflussen, sondern auch Bewusstsein und Gemüt, und befähigt, auch mit nichtorganischen Organismen zu kommunizieren. Im Ausstellungsraum der Schering Stiftung geht es um menschliche Milch und den Versuch der Nahrungsmittelindustrie, diese mit biotechnologischen Mitteln nachzubilden. In einer Zeit, in der das Ersetzen von „natürlichen“ durch „künstliche“ Stoffe als ressourcenschonendes Prinzip erforscht wird (z.B. im Labor gezüchtetes statt von Rindern geliefertes Fleisch), geht es hier nicht einfach nur um die Zukunft der Nahrungsmittelindustrie, sondern viel fundamentaler um die Frage nach der Daseinsberechtigung des Menschen. Jenna Sutela, „Stellar Nursery“, Schering Stiftung, 15.9.-27.11.2022 (Eröffnung am 14.9. um 18-22 Uhr)

Jenna Sutela, video still „Milky Ways”, 2022. In collaboration with Primer.

Anna Ehrenstein – Digitale Souveränität

Die Frage „Wem gehört das Internet“, vor Jahrzehnten geboren als verheißungsvolle Vision einer für alle Menschen zugänglichen Welt, ist so alt wie das Internet selbst. Und bis heute unbeantwortet. Mit dem Wandel von Web 2 zu Web 3 und der Hoffnung auf Dezentralisierung wünschen sich wieder alle, die Antwort möge „uns allen“ lauten, aber aktuell und in der Logik von Social Media jedenfalls gehört es jenen, die das Narrativ beherrschen, deren Inhalte am hellsten strahlen, am wahrsten scheinen – oder am einfachsten zugänglich sind. Anna Ehrenstein nutzt das Bild vom Balkan als konfliktüberladene, gesetzlose Zone zur ironischen Verhandlung von Fragen nach Teilhabe, Behauptung und Kontrolle im Netz und gibt auch ihre neu erworbenen Fähigkeiten als Hypnotiseurin zum Besten – es muss ja nicht immer nur mit konventionellen künstlerischen Mitteln gearbeitet werden. Anna Ehrenstein, „The Balkanization of the Cloud“, Office Impart, 15.9.-22.10.2022 (Eröffnung am 15.9. 18-21 Uhr)

Photo© Katharina Kritzler

Ian Cheng – Künstliche Intelligenz

Bislang kontrollierte der Mensch die Technologie, in Zukunft wird es möglicherweise umgekehrt sein. Wird der Mensch noch selber denken oder das Denken einer KI überlassen? Wird er sich freiwillig den von ihm geschaffenen höheren Mächten übergeben, wird eine harmonische Symbiose auf Augenhöhe entstehen oder ein schrecklicher Kampf? Der US-Amerikaner Ian Cheng verhandelt diese Fragen (ohne sie zu beantworten) in einem Anime-Film, der live aus einer Spiel-Engine gestreamt wird und deshalb bei jeder Vorführung mit anderen Details aufwartet. Teil eines größeren Projektes, gibt es auch ein Life-After-Bob-Wiki, sowie Merchandise und die Möglichkeit zum Minten eines NFTs. Das Projekt leistet damit einen Beitrag zu einer immersiven technologischen Lernerfahrung und illustriert Aspekte des für Web3 relevanten Community-Building. Ian Cheng, „Life After BOB, LAS, Halle am Berghain, bis 6. November 2023

Installationsansicht Ian Cheng, “Life After BOB”, Halle am Berghain. Courtesy the artist und LAS (Light Art Space), photo© Andrea Rossetti.

Das gesamte Programm findet sich auf der Website der Berlin Art Week Dauer ist vom 14.-18. September, die Laufzeit der meisten Ausstellungen geht aber darüber hinaus.

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