Endlose Weite im Sandkasten

Die Ausstellung „Sandbox Mode“ zeigt: Digitale Kunst ist der analogen Welt, in der wir leben, weit verbundener, als es ihre nichtphysische Erscheinungsform vermuten lässt.

Sara Ludy, Still aus Metamimics, 2023. Courtesy Office Impart, Berlin.

Im 18. Jahrhundert war das Versenden von Briefen per Post zwar schon relativ verlustfrei möglich, aber so teuer, dass sich die Freunde des regen Briefwechsels ein kostensparendes Prinzip ausdachten: den „crossed letter“, wobei man ein Papier einmal längs und einmal quer beschrieb, sogar auf Vorder- wie Rückseite. Die Brontë-Schwestern etwa beherrschten diese in die Literaturgeschichte eingegangene Technik meisterlich. Im digitalen Zeitalter muss man sich um platzsparendes Schreiben keine Gedanken mehr machen, und doch grüßt beim Betreten der Gruppenausstellung „Sandbox Mode“ in der Berliner Galerie Office Impart die Abbildung eines ebensolchen Schriftstücks ausgedruckt auf einer an der Wand hängenden Schriftrolle und gibt unmissverständlich zu verstehen: nur weil es hier um digitale Kunst geht, muss sie sich nicht auf die allgemein anscheinend für notwendig oder zumindest unvermeidbar gehaltenen Screens beschränken.

Stine Deja, Hard Core, Soft Bodies, 2018. Installationsansicht “Sandbox Mode”, Office Impart, Berlin 2023. Photo© Marjorie Brunet Plaza.

Klar gibt es in dieser nach einem aus Onlinespielen bekannten experimentellen Spielmodus benannten Ausstellung auch Screens, aber dass man ihnen eine konzeptuelle Aussage verleihen kann, zeigt etwa die Arbeit „Hard Core, Soft Bodies“ von Stine Deja: Ein hochkant auf einem Haufen Kies stehender Screen zeigt eine Wirbelsäule, die sich durch einen runden Ausschnitt in einer Glasscheibe zu winden scheint, ein Arrangement, das ein kleines Assoziationsgewitter auslöst: das hinter einer Oberfläche verborgene Innere des menschlichen Körpers, der Gegensatz zwischen höherem Drang und niederen Zwängen, das Dilemma des Dreidimensionalen im Zweidimensionalen… Der Kies fungiert hier übrigens nicht nur als Erweiterung des Screens in den Raum, sondern hält noch ein spezielles Schmankerl bereit: bewusster kann man sich der eigenen knöchernen Körperlichkeit nicht werden, wenn man auf die Steine tritt und es knirschen hört.

Eine der banalsten, merkwürdigerweise aber selten thematisierten Verbindungen von analoger und digitaler Welt liegen im Wissen, das in die Schaffung digitaler Werke eingeht, aber in der analogen Welt erworben wurde. Da wäre zum Beispiel ein technologisch rudimentär wirkendes, auf einer Stele platziertes kleines Gerät, auf dessen Display hypnotisierende Abfolgen von Formen und Symbolen laufen und in dem nach Eigenaussage seines Urhebers Andreas Gysin alles steckt, was der Künstler an Wissen angehäuft hat – Wissen, das nicht zuletzt durch den Austausch mit anderen entstanden ist. Das gleiche gilt für die Urheber der eingangs beschriebenen Schriftrolle, die zu einer Arbeit der erst jüngst gegründeten Roedalming Group gehört, einer Künstlergruppe, die den kollektiven Schaffensprozess zwar über digitale Kanäle koordiniert, ihre Existenz aber in analogen Werken und in diesem Fall durch Kenntnis analoger Literaturgeschichte ausweist.

Andreas Gysin, LCD 1, 2022. Courtesy Office Impart, Berlin

In manchen Arbeiten zeigt sich der Online-Offline-Bezug eher beiläufig und durchs Hintertürchen, wirkt dann aber umso stärker: In der Küchenzeile über dem Herd hängt ein Screen, wo früher und besonders in US-amerikanischen Haushalten ein Fernseher gestanden hätte, darauf die Videoarbeit „Metamimics“ von Sara Ludy, eine endlose Abfolge von KI-generierten Figuren, die fortlaufend ihre Tiermasken nachempfundenen Gesichter ändern, was der häuslichen Küche als Hort der Gemütlichkeit einen unheimlichen Zug einhaucht. Wie beiläufig werden hier am Fließband Existenzen ausgelöscht, um in neuen aufzugehen, da ist der Gedanke an den alltäglichen Horror der immergleichen Hausarbeit, der diejenigen, welche sie verrichten müssen, gern unsichtbar werden lässt, nicht fern.

Der Fokus auf das Physische im Digitalen und umgekehrt erweitert den Bewegungsradius digitaler Kunst ins Analoge, erhöht ihren konzeptuelles Gehalt und erleichtert ihre Lesbarkeit, erweist sich aber auch jenseits der Kunst als interessanter Kniff: Wer den Blick dafür schärft, wie sehr unser ganzes Leben vom Wandern zwischen diesen Welten geprägt ist, wird sich leichter damit tun, sich in den nichtphysischen Räumen der Zukunft zurechtzufinden.

„Sandbox Mode“ (Mitchell F. Chan, Stine Deja, Andreas Gysin, Sara Ludy, Cezar Mocan, The Roedalming Group), Office Impart, Berlin, bis 20. Oktober 2023

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