Ganz Berlin ist eine Kunst

Das seit Jahren wachsende Programm der Berlin Art Week scheint mittlerweile den gesamten Kunstbetrieb der Stadt zu umfassen. Alles sehen kann man eh nicht, aber diese Empfehlungen sollte man nicht verpassen.

kennedy+swan, Still aus „The Red Queen Effect“, Videoinstallation, 2025. Photo© kennedy+swan.

Wer umfangreichere Kunst-Events wie die Berlin Art Week 2025 auf technologiebasierte Kunst abklopft, wird zwar immer fündig, meist aber bei den üblichen Verdächtigen, also den darauf spezialisierten Adressen. Die folgenden Empfehlungen enthalten zur Abwechslung deshalb auch Ausstellungen, bei denen sich der Technologieaspekt eher durchs Hintertürchen einschleicht…

Fortschritt kennt kein Gegenmittel

Wohl in keinem Bereich hat der Einsatz von KI zu solchen Durchbrüchen verholfen wie in der medizinischen Forschung. Winkt jetzt die völlige Entschlüsselung des menschlichen Organismus, die Abschaffung der menschlichen Ärzteschaft, oder gar das ewige Leben? Das Künstlerduo kennedy+swan entwirft spekulative Anwendungsszenarien von Technologie und bittet sein Publikum hier in ein Wechselbad von Verheißung und Verantwortung, das ästhetisch und formal so einladend gestaltet ist, dass man am liebsten nur eintauchen und abschalten würde, aber das könnte schlecht sein für die Gesundheit…
kennedy+swan, „The Red Queen Effect“, Projektraum der Schering Stiftung, Eröffnung 10. September, 18-22 Uhr

Gegen die große Erschöpfung

Selbstoptimierung, Reizüberflutung, globale Krisen, Innovation, Transformation, Disruption – am gegenwärtigen Gefühl von Überforderung dürfte der technologische Wandel nicht ganz unschuldig sein. Diese Gruppenausstellung zu organisieren war bestimmt erschöpfend angesichts der ziemlich facettenreichen Künstlerliste von rund 80 Positionen, aber ihr Gegenstand könnte Kraft verleihen: Kunst als Gegenpol zur drohenden Kapitulation vor herrschenden Missständen, als Quelle von Mut, Reflexion und positiven Zukunftsvisionen.
„The Big Fatigue“, Schlachthofgelände, Hermann-Blankenstein-Straße 20, Eröffnung 10. September 19 Uhr, Afterparty ab 22 Uhr
(11.-14. September 11-20 Uhr, danach bis 25. September 12-18 Uhr täglich außer Montags)

Ideologiefreies Miteinander

Man sollte meinen, der Kunstbetrieb sei ein ideologiefreier Raum, denn Kunst muss doch frei sein, frei von Funktionen und Vorgaben jeder Art. Tja… Umso wichtiger deshalb, dass die Diskursplattform Shiur künstlerische Positionen versammelt, die in Berlin aktuell entweder nicht gern gesehen sind oder kaum zusammen in einer Ausstellung auftauchen. Jüdische, muslimische, israelische, arabische Kunstschaffende, die eines gemeinsam haben: Ideologiefreiheit. Und das ist zukunftsvisionstechnisch ganz weit vorn. Außerdem nicht verpassen: die elektronischen Soundscapes von Nico Rosenberg aus veralteter Technik wie Kassettenrekordern.
GALUT/EXLILE: Nervous Pathways“, Shiur Berlin Pop-up Gallery, Eröffnung 10. September 18 Uhr (Lesung und Performance ab 19.30 Uhr)

Mythologischer Geist der Zukunft

Die nomadische LAS Art Foundation hat sich für ihr jüngstes Projekt ein ehemaliges Kaufhaus in Neukölln ausgesucht, wo szenografisch eingebettete Videoarbeiten von Künstlerin Christelle Oyri zwischen Vergangenheit und Zukunft oszillieren, zwischen Realität und Mythologie, zwischen Dies- und Jenseits. Gemäß der Praxis von Oyri, die auch als DJ und Produzentin agiert, spielt Musik, in diesem Fall Memphis-Rap, eine zentrale Rolle in der Inszenierung, die wie eine Art Séance den Geist verschiedener Zeiten hervorrufen und zur Imagination neuer Zukünfte verleiten soll.
„Christelle Oyri – Dead God Flow“, LAS im CANK, Eröffnung 10. September 18-22 Uhr

Maximal sichtbares Verschwinden

Bei aller Verdrängungsdynamik schafft es die Kunstszene in Berlin immer noch und immer wieder, neue Räume aufzutun, Projekte zu stemmen, Sichtbarkeit zu schaffen. Oft sind freie Kunstschaffende die treibende Kraft. Ihre Orte? Krasse Gegensätze zu den gebotoxten Fassaden austauschbarer Büroneubauten, den Spielplatzfabriken der Startup-Szene und den pseudohistorisch totsanierten Luxusimmobilien, denen sie nach und nach weichen. Ihr Antrieb? Sichtbarkeit. Gerade zur Berlin Art Week muss die sich gegen maximale Kunstverdichtung behaupten. „Maximal“ thematisiert (auch dank maximal interessanter Künstlerliste, kuratiert u.a. von Künstlerin Sophia Süßmilch) den Gegensatz zwischen maximaler Präsenz und Verschwinden – an einem Ort, dem letzteres droht…
Maximal“, Remise im Wrangelkiez, Eröffnung 11. September 13-22 Uhr

Über Umweg ins Raumschiff

Es ist nicht leicht, ins „Raumschiff“ zu kommen, wie Berliner das Kongresszentrum ICC nennen. Die Tickets für die Aktion „49h ICC Berlin“, die das Gebäude vom 11.-14. September der Öffentlichkeit zugänglich machen will, sind jedenfalls schon seit Wochen ausverkauft. Aber es gibt einen Umweg: die Tickets für das im ICC stattfindende Designfestival kosten zwar ordentlich mehr (199 Euro), aber dafür bekommt man Talks, Workshops, eine Designausstellung und Zugang zu einer der verrücktesten architektonischen Zukunftsvisionen des 20. Jahrhunderts, inklusive Führung!
„Form/Future“, ICC Berlin, 11./12. September (Programm und Tickets)

Wegbereiter der algorithmischen Kunst

Als Pionier der Computerkunst ist Frieder Nake mittlerweile auch der analogen Kunstwelt ein Begriff, Georg Nees eher weniger, obwohl der Mathematiker, Philosoph und Grafiker als Verfasser der ersten Doktorarbeit über Computerkunst 1969 die wissenschaftliche Basis für dieses Feld legte, nachdem er bereits 1965 erstmals Computergrafiken in Stuttgart gezeigt hatte und gemeinsam mit Nake und Michael Noll zu den „3N“ gehörte, den Computerkunstpionieren der ersten Stunde. Diese Ausstellung würdigt 60 Jahre Computerkunst mit historischem Material und bisher nie gezeigten Werken von Nake und Nees.
„Frieder Nake + Georg Nees: 1965 The Beginning“, DAM Projects, Eröffnung Freitag 12. September 18-21 Uhr

Gegenwart in der Waschmaschine

Wer sein Kunstprojekt „Most Dismal Swamp“ nennt, kann nicht nur trübsinnig drauf sein, und tatsächlich betrachtet Künstler Dane Sutherland die mentalen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierung, Social Media und sonstigen Phänomenen aus Kultur und Alltag nicht nur als supertristen Sumpf, sondern präsentiert seine multimediale Installation in einem der zur Zeit hottesten Projekträume Berlins als eine Art Waschmaschine, in der Wahres und Erfundenes, Authentisches und Synthetisches, Dunkelfärbendes und Aufhellendes zusammengeworfen in einem einzigen Schleudergang gewaschen wird. Wer in Sachen kulturelle Codes mit allen Wassern gewaschen ist, wird nicht im Sumpf versinken.
„Sending Hate – Most Dismal Swamp“, Number 1 Main Road, Eröffnung 12. September 18-22 Uhr

Polyphone Immersion im Funkhaus

Raum als Medium, Klang als Raum, das ist der Wegweiser für das Spatial Festival, in dessen Rahmen eine Ausstellung (in Kooperation mit dem Kunstraum Passage und der Plattform für Spatial Sound Monom) mit Arbeiten gezeigt wird, die auf immersive Weise das Wesen von Performance erforschen, wobei „immersiv“ hier wohl nichts mit dem üblichen Rundum-Projektions-Kitsch zu tun haben dürfte. Die internationale Künstlerliste jedenfalls ist beeindruckend und lässt ein konzeptuell, räumlich und technologisch vielschichtiges Erlebnis erwarten.
Polyphonic Views“, Funkhaus (Shedhalle), Eröffnung 12. September 18-22 Uhr (Afterparty ab 22 Uhr)

Im virtuellen Garten wächst echte Natur

Ausgerechnet Blockchain und KI, diese Ausgeburten energiefressender Serverfarmen, sollen zur Regeneration von Natur verhelfen? Das Künstlerduo Crosslucid beweist genau das: wer ein digitales Pflänzchen kauft, füttert damit das virtuelles Wachstum eines digitalen Biotops und unterstützt gleichzeitig ökologische Regenerationsinitiativen in der physischen Welt. Technologische und ökologische Evolution stehen in direkter Beziehung, nicht mehr als feindlicher Gegensatz, sondern gegenseitige Unterstützung. Je mehr Beteiligte mit dem virtuellen Ökosystem interagieren, desto komplexer, verzweigter, ja, intelligenter wird es – und hinterfragt nebenbei den Absolutheitsanspruch menschlicher Intelligenz.
„The Way of Flowers: Plant Intelligence as Protocol for Regenerative Futures“, Präsentation und Talk mit Crosslucid im Berlin Art Week Garden, Hamburger Bahnhof, 13. September 11.30-13.15 Uhr (Talk 12-12.45 Uhr) / Ausstellung bei Office Impart bis 17. Oktober 2025

Lust auf Neues?

Hier geht es zu relevanten, interessanten und erstaunlichen Einblicken in das Beziehungsleben von Kunst und Technologie, effizient zusammengefasst in ein bis zwei Newsletter-Ausgaben pro Monat.

[sibwp_form id=1]