Ausstellungen von Michel Majerus und Cory Arcangel im Kunstverein in Hamburg bilden ein Gipfeltreffen der digitalen Bildkultur und verweisen zugleich auf deren Ende.
Dass Michel Majerus als einer der ersten Künstler den Einfluss des Digitalen auf die visuelle Kultur in der Kunst behandelt hat, ist unumstritten. Für Kunstschaffende, die sich heute mit digitalen Phänomenen auseinandersetzen, bedeutet das Werk des früh Verstorbenen (mit nur 35 Jahren bei einem Flugzeugabsturz 2002) eine Art Grundsteinlegung. Im Kunstverein in Hamburg hat mit Cory Arcangel ein weiterer Meisterkommentator digitaler Kultur zeitgleich mit Majerus eine Einzelausstellung – ein Bogenschlag von den unbeschwerten Anfängen des Samplings digitaler Bildquellen in der Kunst bis zu ihrem nahenden Ende.
Was der Vergleich zwischen beiden Ausstellungen vor allem zeigt, ist die veränderte Haltung gegenüber digital verbreiteten visuellen Informationen. Rief die Entdeckung eines schier unermesslichen, für die Kunst noch nicht erschlossenen Quell an Bildern bei Majerus noch fast kindliches Staunen hervor, ist er bei Arcangel selbstverständlicher Bestandteil seines Repertoires. Wo Majerus einen Bilderrausch provozierte, will Arcangel das Rauschen der Bilder ordnen. Wo Majerus durch Sampling scheinbar Harmloses mit Bedeutung auflud und damit zum Teil durchaus ungute Assoziationen hervorrief, geht es Arcangel darum, tatsächlich Ungutes sichtbar zu machen.
Bei Majerus gab es noch ein Gewahrwerden, dass da etwas war, bei dem man sich bedienen, das man kopieren konnte, ohne als Plagiator dazustehen, das möglicherweise aber auch an der künstlerischen Hoheit über das Bild kratzen und künstlerische Techniken kontaminieren oder infragestellen könnte. Was mit der Malerei ja auch genauso gekommen ist, die seit den Anfängen des Internets abwechselnd hochgejubelt und für tot erklärt wird. Die Vorbehaltlosigkeit, mit der sich Majerus in vollem Bewusstsein über diese Problematik in das Ausprobieren neuer Techniken wie Photoshop warf, ist vielleicht sein größtes Verdienst. Arcangel aber, dessen Schaffen etwa zu dem Zeitpunkt begann, als das von Majerus jäh endete, muss sein künstlerisches Selbstverständnis nicht mehr hinterfragen, wenn er mit Material aus dem Internet arbeitet. Und wenn er einen Instagram-Post zu Übergröße aufbläst und ihn quer- statt hochformatig zeigt, dann kann er sich sicher sein, dass das Publikum nicht nur weiß, was ein Instagram-Post ist, sondern auch mit dessen Rezeptionsbedingungen bestens vertraut ist und somit irritiert reagieren wird, weil die „natürliche“ vertikale Scroll-Richtung des Bildes durch seine horizontale Anordnung gestört ist. Das Motiv der Space Invaders von Majerus in einen künstlerischen Kontext transferiert zu sehen muss dagegen für das Publikum der ersten Computerspielegeneration noch irritierend gewesen sein, nicht nur weil popkulturelle Bilder in der Kunst neu waren, sondern weil Bilder überhaupt weniger zwischen den Welten wanderten als heute, wo man kein Fan des Spiels Super Mario gewesen sein muss, um genau dieses Spiel als Ursprung der mittlerweile ikonischen Arbeit Super Mario Clouds von Arcangel zu erkennen, allein anhand eines kleinen visuellen Details, der Wolken.
Nur wenige Jahre später rufen popkulturelle Bildreferenzen als Gegenstand der Kunst höchstens noch Nostalgie hervor, und deshalb ist es nur konsequent, wenn sich Arcangel mittlerweile eher dem Sichtbarmachen von Dingen zuwendet, die erstmal nicht erkennbar sind – bei Stavanger denkt jedenfalls wahrscheinlich kaum jemand als erstes an Amazon. Warum Stavanger? Weil der gebürtige US-Amerikaner Arcangel aktuell in der norwegischen Hafenstadt lebt, eher abseits der Kunstmetropolen und Tech-Hot Spots dieser Welt, für Besitzer von Superyachten allerdings ein Ort von zentraler Bedeutung, denn wird ein Schiff direkt nach Bau hierhin überführt, fällt keine Steuer an. Die Besitzer der hier liegenden Yachten wie der „Flying Fox“, deren Eigentum Amazon-Tykoon Jeff Bezos zugeschrieben wird und die den Ausgangspunkt für Arcangels Ausstellung bildet, sind oft anonym, ihr Vermögen stammt aus unsichtbaren Quellen, gern erworben in Zusammenhang mit wichtigen Ressourcen, Öl, Informationen, Daten. Für Arcangel sind diese Schiffe – letztlich finanziert aus Massenkonsum, im Fall von Daten erwachsen aus der unermüdlichen Nutzung des Internets –, Sinnbilder für alles, was konsumtechnisch falsch läuft.
Als Majerus das Internet entdeckte, war der Konsum von digitalen Bildern geprägt von Neugier auf das Neue, heute steht der Begriff „Doomscrolling“ für das schreckliche Gefühl, nicht damit aufhören zu können, das Netz nach den schlimmsten News zu durchforsten. Auch wenn weder das Twitter-Schauspiel nach der Übernahme durch Elon Musk noch die Massenentlassungen bei Meta das Ende von Social Media einläuten werden: die Stimmung ist getragen von Skepsis und Müdigkeit, und Arcangels Kritik verständlich. War die kurze Hochphase der Post Internet Art noch getragen von ironischer Betrachtung gepaart mit einem aufrichtigen ästhetischen Interesse, scheint es mittlerweile, als gäbe es für die Kunst in Bezug auf das Internet nichts mehr zu tun als sich kommentierend an dessen Spielfeldrand zu stellen. Umso mehr wünscht man sich, die Entwicklung des Metaverse möge wieder eine zugewandte, explorierende Form von Kunstschaffen hervorbringen wie einst bei Majerus.
Michel Majerus, „Data Streaming“ und Cory Arcangel, „Flying Foxes”, Kunstverein in Hamburg, noch bis zum 12. März 2022
Aus Anlass seines 20-jährigen Todestages sind deutschlandweit Ausstellungen dem Werk von Michel Majerus gewidmet. Mehr dazu auf michelmajerus2022.com